Straßenglühen 
        von Johannis Riegsinger /
        MO 
        Irgendwann
        in der Steinzeit kam ein Neandertaler auf die Idee, sich
        auf den Rücken eines Pferdes zu setzen, anstatt es zu
        essen. Der brutale Abzug des Gauls muss so bestechend
        gewesen sein, dass der Neander beschlossen hat, Pferde
        zum Angasen zu benutzen. Es steckt eben im Menschen.
        Alles, was schneller ist als er zu Fuß, wird genüsslich
        zur Brust genommen. 
         
        Rasen. Bis zur Besinnungslosigkeit über die Landstraße
        brettern. Sich Schräglagen reinziehen, die
        entgegenkommende Autofahrer mit offenstehenden Mund und
        völlig fertig den nächsten Parkplatz suchen zu lassen.
        Warnschilder und Tempolimits großzügig ignorieren,
        jeden anderen als Gegner und obendrein noch einen
        Heidenspaß haben. Heizen. Blasen. Jagen. Uuaah! 
         
        Klar, nicht jeder will und braucht das. Ist ja auch
        verboten und gefährlich. Man kann dabei sterben, im
        Rollstuhl enden, den Führerschein und viel Geld
        verlieren. Und trotzdem ist das gut durchgewärmte Fahren
        auf Landstraßen die Essenz des Motorradfahrens. Du
        hockst auf dem Eisen, drehst am Gas und es geht
        vorwärts. Einfach nur vorwärts. Es tut so gut, wenn man
        Beschleunigung nicht am Tacho ablesen muss, sondern
        spürt, wie es einem die Augen in Richtung Gehirn zieht,
        die Eingeweide gegen das Rückgrat presst und die Arme längt.
        Aber es muss gar nicht die Brachialbeschleunigung Marke
        "Tritt in die Nieren" sein. Es reicht, immer
        wieder in langen Zügen die Geraden runterzufräsen und
        zu hoffen, dass eine Kurve kommt. 
         
        Selbst auf einer Drossel-125er ist es äußerst
        vergnüglich, das Motörchen arbeiten zu lassen, die
        Gänge im richtigen Augenblick reinzutreten und beim
        Geschwindigkeitskontrollblick auf die immer zorniger vorbeifliegenden
        Büsche zufrieden festzustellen, dass man an der
        nächsten Kurve entschlossen in die Eisen muss, wenn es
        nicht "Hecke" anstatt "Ecke" heißen
        soll. 
         
        Bremsen ist nicht lästig, sondern auch schön. Wer liebt
        es nicht? Zischend fahren die Kolben gegen die Scheiben,
        und je nach Untersatz ist die Bremswirkung... äh,
        hoffentlich richtig gut. Der Körper wird schwer und
        schwerer, der Vorderreifen braust beleidigt am Asphalt,
        und wenn es genau bis in die Ecke reicht, war's gut. 
         
        Zeit für ein Geständnis: Es gab eine Zeit in meinem
        Leben - so kurz nach achtzehn - da waren BMWs für mich
        das Sinnbild der Trägheit. Ich weiß nicht mal weshalb,
        aber ich war der festen Meinung, dass Leute, die BMWs
        fahren, schlicht und einfach Angst haben. Ist doch
        logisch: Wie kann sich jemand mit gesundem
        Menschenverstand ein so kreuzhäßliches Ding wie eine K
        100 kaufen, wenn er eine GSX-R haben kann? Oder
        irgendetwas anderes, das aussieht wie ein Motorrad und
        nicht wie ein Küchengerät. 
         
        Eines Tages feure ich so recht fidel dem Schwarzwald
        hinunter und sehe zu meinem großen Entzücken in der
        Ferne eine BMW auf meine Straße einbiegen. Nagelneue K
        100 RS, Koffer aus dem BMW-Zubehörprogramm, Systemhelme,
        korrekt gekleidete Sozia und am Lenker - dem Bauchumfang
        nach zu schließen - ein Herr im besten Alter. Das
        klassische Feindbild! Mit einem  Freudenjuchzer gingen
        bei mir alle Systeme auf Angriff, ich wollte dem alten
        Herrn zeigen, was eine Harke ist. 
         
        Fünf Minuten später, nachdem ich in diversen Ecken so
        knapp wie nur irgend möglich dem Einschlag entgangen
        war, musste ich mein Weltbild einer grundlegenden
        Revision unterziehen. Der alte Knabe hatte mir derart
        lässig die rote Laterne umgehängt, dass ich den Tränen
        nahe war. Und das Schlimmste: Er hatte mich
        wahrscheinlich nicht einmal bemerkt, während die Dame
        auf dem Rücksitz derart gelangweilt wirkte, dass ich
        vermuten musste, dass ihr das Geräusch der auf dem Boden
        schrappelnden Koffer altbekannt war. 
         
        Andere Anekdote. Ich stehe nach Feierabend am
        Streckenabschnitt Pflanzgarten der
        Nürburgring-Nordschleife. Den Berg herunter kommt ein
        Ducati 916, deren kernig gedrehter Desmo schon im Wald
        deutlich zu hören ist, der Fahrer scheint mit Ernst bei
        der Sache zu sein. Heftiger Hang Off im Kurvenscheitel
        verhilft ihm jedoch auch nicht zum entscheidenden Speedvorteil
        gegenüber dem Mittsechziger und seiner metallic-braunen
        R 1100 RT, der ihn locker außen nimmt. Aufrecht sitzend,
        aus dem Radio weht Swingmusik, der weiße Bart quillt aus
        dem Helm. Perfekt. 
         
        Was schließen wir aus diesen Ereignissen:
        Geschwindigkeit ist Ansichtssache. Geschwindigkeit hat
        nur bedingt was mit dem gefahrenen Motorrad zu tun. Der
        lockere Fahrer macht Tempo, nicht der gestresste. Der
        legt sich nur zielsicher aufs Ohr. Und: Ich will nie mehr
        das Genörgel der Gereiften hören. Jungs, Ihr seid
        durchschaut! Ihr habt Euch doch mit den Horex, Max und
        anderen Trümmern auch ordentlich auf die Ohren gegeben. 
        Stimmt's? (Reuige Geständnisse bitte an die Redaktion
        MO) 
         
        Warum aber tun wir es alle, in mehr oder minder
        drastischen Ausmaß? Antwort: Es ist schöner als
        Fliegen. Egal, ob es der beinharte Raser ist, der
        tatsächlich versucht, das Leistungspotential seiner Fireblade
        auszureizen, oder ob es sich um den mit mathematischer
        Präzision vorgehenden Ideallinienfuchs handelt, schnell
        fahren macht glücklich! Uns es ist vermutlich sogar
        gesund. Was soviel heißt, dass Ihre Krankenkasse es
        empfehlen würde. Solange Sie sich nicht auf die Erde
        hauen... Aber das ist ein Thema für sich. 
         
        Stürzen, darin sind sich die Experten einig, gehört zum
        Motorradfahren wie das Erbrechen zum Alkoholgenuss. Wer
        nicht bricht, hat entweder enorme Übung oder einfach
        nicht alles gegeben. Ein kleiner Sturz ist besonders für
        Einsteiger unvermeidlich. Und wer hat schon aufgehört
        Fahrrad zu fahren, weil es ihn als Kind vom Drahtesel
        gerissen hat? Also Schluss mit dem Gejammer. 
         
        Problematisch wird es erst, wenn die Zahl der Stürze mit
        den erfahrenen Kilometern nicht abnimmt. Dann dürfte das
        gefahrene Durschnittstempo ziemlich sicher über der
        natürlichen Reaktionszeit sowie vor allem dem IQ des
        Sturzpiloten liegen. 
         
        Es ist aber auch ein heikles Thema. Denn Stürzen macht,
        bis auf Ausnahmen, keinen Spaß. Obendrein fällt es sich
        mit steigenden Tempo härter. Ein bekannter deutscher
        Motorradtester hat mir das vor kurzem mit den Worten
        bestätigt: "Wenn du das erste Mal aufschlägst,
        spürst du, wie die Knochen brechen. Das ist ja noch
        okay. Beim zweiten Mal splittern sie. Das geht dir schon
        nahe. Beim dritten Mal spürst du, wie sich die Splitter
        ineinander schieben, und ab da ist dir das Ergebnis
        egal." Diesen Worten ist nichts hinzuzufügen. 
         
        Wie aber kann man Stürze vermeiden, ohne langsamer zu
        werden? Als erstes zählt einzig und alleine die Übung.
        Man kann es nicht oft genug sagen: Je mehr Motorrad man
        fährt, umso sicherer wird man. Motorradfahren
        funktioniert eben ganz anders als Autofahren. Während
        man an das Lenkrad eines Autos einfach ein Gehirn
        anschließen müsste, um die Kiste nach links oder rechts
        zu steuern, ist beim Motorrad unbedingt ein komplizierter
        Körpereinsatz notwendig. Und der ist Übungssache. 
         
        Zweite Regel: Ein Motorrad fährt dahin, wo der Fahrer
        hinschaut. Schwarze Katze von rechts? Einfach erschreckt
        auf die Mieze starren, und es gibt eine weniger. Zu
        schnell am Kurveneingang? Eiserner Blick auf die Grasnarbe,
        und es geht garantiert ab in die Büsche. Im positiven
        Fall heißt das aber, daß durch diszipliniertes Entlanghangeln
        an einer eindeutig ins Auge gefassten Linie selbst auf
        Straßen dritter Ordnung furchterregende Tempi möglich
        sind. Die Augen dürfen dabei keineswegs dicht vor dem
        Motorrad kleben, sondern müssen der Maschine weit
        vorauseilen. Der kluge Mensch lernt hieraus aber auch,
        dass ein Motorrad dann am sichersten bewegt wird, wenn
        man auf jeden Fall sieht, wohin es geht. Schonungsloses
        Reinhalten in blinde Ecken ist etwas für die Rennstrecke
        oder für Bekloppte. 
         
        Dritte Regel: Schräglage. Schnelles Fahren ohne die
        psychische Fähigkeit zur Schräglage ist A) nicht
        möglich und B) gefährlich. A), weil ein Motorrad mit
        zunehmender Geschwindigkeit bei gleichbleibendem
        Kurvenradius einfach einen größeren Schräglagenwinkel
        braucht. B) ist die Geschichte dazu: Wer hemmungslos in
        Ecken brät, die dann zuziehen und sich vor weiterem Abwinkeln
        fürchtet, macht blitzartig den Abflug. Deshalb sollte
        man ständig an seiner persönlich möglichen Schräglage
        feilen, im Ernstfall ist das mehr wert als jedes ABC,
        alle ADAC-Mitgliedschaften und Protektorenkombis
        zusammen. Also runter mit dem Hobel, ohnmächtiges
        Vertrauen in den Griff der Straße kostet enorme
        Überwindung, aber die Belohnung ist wundervoll: Der
        Horizont verzerrt sich, als habe die Maschine Klauen und
        Zähne, hält sie sich am eingeschlagenen Radius fest,
        das Blut fließt so wundervoll warm und zäh.  Yippieh. 
         
        Wer an seiner Schräglage feilt, beschäftigt sich über
        kurz oder lang mit dem Grip seiner Reifen. Dazu kann nur
        gesagt werden, dass in den meisten Fällen nicht der
        Reifen das Limit setzt, sondern die Straßenoberfläche.
        Deshalb gilt die Regel zwei: Guck dir an, wo du hinbrätst,
        und das rechtzeitig. 
         
        Vierte Regel: Dem Radius der Kurve auf der Außenlinie so
        lange folgen, bis man deutlich den Kurvenausgang sichtet
        und erst dann nach innen vollstrecken. Wer in lockerer Racer-Manier
        die vermeintliche Ideallinie entlangglüht, kann sich
        unversehens vor einer brutal zuziehenden Hundekurve
        finden. So hat schon mancher sein Moped im Gegenverkehr
        versenkt. Was an der Außenlinie noch wichtiger ist: Nur
        so ist der Schädel vor den Kühlern entgegenkommender
        LKWs sicher. Vorsicht aber mit der Straßenoberfläche,
        denn logischerweise finden sich Rollsplit, Schmodder und
        Öl meistens an der Außenbahn. 
         
        Und Regel fünf: Hartes Bremsen in Kurven ist völliger
        Schwachsinn! Erstens stellen moderne Niederquerschnittsreifen
        viele Motorräder auf, sie vermindern also die mögliche
        Schräglage, wenn der Fahrer nicht durch erhöhten
        Körpereinsatz diesem Aufstellen entgegenwirkt. Zweitens
        verkraftet ein Vorderreifen nur entweder Kurvenführungskraft
        oder Bremskraft. Zu tiefes oder gar panisches Hineinbremsen
        in Kurven erhöht die Gefahr, aufgrund eines
        wegrutschenden Reifens auf die Waffel zu bretzeln. Man
        weiß das hinterher nur nicht so genau... 
         
        Deshalb ist es ganz wichtig, das korrekte Tempo vor der
        Kurve anliegen zu haben und nicht auf gut Glück ins
        Leere zu ballern. Auf Sicht fahren! Plötzliche
        Überraschungen können in den meist Fällen durch
        entschlossenes Drücken gemeistert werden, da die
        zunehmende Reibung der Reifen auf der Straße
        erstaunlicherweise das überschüssige Tempo zuverlässig
        abbaut. 
         
        Wer diese Grundregeln testet, wird feststellen, dass er
        das Motorrad ganz anders zu sehen beginnt. Es macht viel
        mehr Spaß, ist sicherer und als willkommener Nebeneffekt
        steigt auch der Schnitt. Alles paletti jetzt? Halt!
        Plötzlich ist das Tempo so hoch, dass man sich um ein
        Vielfaches mehr konzentrieren muss, denn wer beim
        zügigen Aneinandersetzen dieser Regeln plötzlich eine
        Masche fallen lässt, der hat schneller große Löcher in
        den Strümpfen als ihm lieb ist. 
         
        Nun zu einem traurigen und ernsten Thema. Viel schlimmer
        als jede Hundekurve, jede Diesellache und sogar schlimmer
        als ein verregneter Sommer ist der Polizist. Es ist der
        natürliche Feind des Street-Surfers. Es gibt zwar, das
        wissen wir, eine Menge lustiger Typen bei der Polizei,
        solche, die sich nach Feierabend auf ihre ZRX werfen um
        sich den Stress vom Hals zu blasen, aber im großen und
        ganzen versteht der Polizist keinen Spaß. Das darf er
        auch nicht, denn sobald er lacht oder gar ein Auge
        zudrückt, wird er entlassen. Andere Leute zu nerven, das
        ist sein Job. Er kann nichts dafür, deshalb muss man ihm
        auch nicht böse sein, sondern eher Mitleid haben.
        Früher haben Polizisten Verbrecher verhaftet, heute
        müssen Polizisten Temposünder erwischen. 
         
        Unseren klugen Lesern stellen sich vermutlich folgende
        Fragen: Warum gibt es ein Tempolimit? Sind Tempolimits
        notwendig? Wenn ich temposündige, bin ich dann ein
        schlechter Mensch? Was raten mir die Experten? 
         
        Die Antworten auf all diese Fragen beginnen mit dem
        durchschnittlichen Verkehrsteilnehmer. Der
        durchschnittliche Verkehrsteilnehmer ist Autofahrer. Der
        durchschnittliche Autofahrer hat zwar vom Tuten, aber
        keineswegs vom Blasen Ahnung. 
         
        Fahrzustände, die von einer gleichförmigen, einheitlich
        normierten Fortbewegung abweichen, erschrecken ihn
        zutiefst. Er ist aber auch gar nicht in der Lage, solche
        Fahrzustände herbeizuführen, denn er steht meistens im
        Stau. Steht er nicht im Stau, sitzt er aber immer noch im
        Auto, und dieses Gefährt ist halt rein konstruktiv nicht
        in der Lage, aus eigener Kraft ungleichförmige
        Fahrzustände anzunehmen. Der Staat wiederum liebt seine
        Autofahrer und tut alles, um die normierte Fortbewegung
        zu unterstützen und gleichförmiger zu machen. Deshalb
        gibt es immer mehr autotaugliche, gerade, breite und
        grottenscheißlangweilige Straßen. An Stellen, wo der
        Straßenverlauf noch der Topographie folgt, was sehr
        spannend sein kann, werden dann eben Tempolimits
        errichtet. 
         
        Langer Rede, kurzer Sinn: Die meisten Tempolimits auf
        offenen Landstraßen sind rein sicherheitstechnisch
        ungefähr so notwendig wie Atombomben im Irak. Sie sind
        kein schlechter Mensch, wenn Sie sich nicht an diese
        Limits halten, sondern nur ein illegaler Mensch. Selbst
        religiöse Menschen sollten prinzipiell kein schlechtes
        Gewissen haben, denn der einzige, der alles sieht, hat ja
        kein Tempolimits errichtet. Die Polizei arbeitet zwar
        daran, alles zu sehen, aber solange sie es noch nicht
        geschafft hat, wird es durchaus unbeobachtete Momente
        geben, die man ausnutzen könnte... 
         
        Tun Sie also, was Sie wollen, und vergessen Sie nie: Nur
        ein lebendiger und gesunder Mensch kann ein guter
        Motorradfahrer sein. Andernfalls ist er entweder eine
        Leiche oder ein Krüppel. Die Auswahl ist da leider sehr
        begrenzt.. 
         
         
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